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Als die Mörder nicht mehr davonkommen sollten

3. Oktober 2008 , Geschrieben von Parents Veröffentlicht in #Kampf gegen Nazis

NS-Verbrechen

Als die Mörder nicht mehr davonkommen sollten

VON ANDREAS MIX

Der Nationalsozialismus kehrte Ende der 50er Jahre ins Wirtschaftswunderland zurück. In Ulm und Bayreuth, in Bonn und München standen 1958 Angehörige von SS-Einsatzgruppen und KZ-Wärter vor Gericht. Die bundesdeutsche Gesellschaft wurde plötzlich mit einer Vergangenheit konfrontiert, die als abgeschlossen galt. Schließlich hatten die Amerikaner im Mai 1958 die letzten verurteilten Kriegsverbrecher der Nürnberger Nachfolgeprozesse vorzeitig aus der Haft entlassen. Umso bestürzender waren die Prozessberichte. Sie enthüllten, dass längst nicht alle NS-Verbrechen bekannt, geschweige denn geahndet waren. Aus den Mördern der Konzentrationslager und Einsatzgruppen waren angeblich unbescholtene Bundesbürger geworden, meldete die Presse mit Erstaunen und wachsender Empörung.

Die Prozesswelle brachte die Justiz in Bedrängnis. Die NS-Verbrechen wurden von ihr ohne System und vielfach unwillig verfolgt. Unter dem Eindruck der Prozesse wuchs die Kritik an der "Zufallsjustiz" (Ernst Müller-Meiningen jr.). In einer Allensbach-Umfrage sprachen sich im August des Jahres 1958 knapp 54 Prozent für eine weitere Strafverfolgung der NS-Verbrechen aus. "13 Jahre nach dem Krieg reinen Tisch machen", forderte Carl Steinhausen in der "Welt".

Justiz und Politik mussten handeln. Am 3. Oktober 1958 beschlossen die Justizminister der Länder und des Bundes die Gründung einer zentralen Behörde zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Die Vorstellung, damit die unbequeme Vergangenheit innerhalb weniger Jahre zu bewältigen, war ein Irrtum. Bis heute hat die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen ihre Arbeit nicht abgeschlossen.

Auf den Weg gebracht wurde die neue Behörde von wenigen engagierten Juristen und Politikern. Zu ihnen gehörte der Stuttgarter Generalstaatsanwalt Erich Nellmann, der den Ulmer Einsatzgruppenprozess vorangetrieben hatte: "Wir dürfen nicht zulassen, dass Mörder und ihre Gehilfen, die wir mit systematischem und planvollem Vorgehen erreichen können, straflos ausgehen und zum Teil als Beamte und Angestellte des Staates, sogar der Polizei, tätig sind." Nellmann schlug seinem Vorgesetzten, dem Baden-Württembergischen Justizminister Wolfgang Haußmann (FDP), eine zentrale Staatsanwaltschaft für die Verfolgung von NS-Verbrechen vor. Bei der Justizministerkonferenz im niedersächsischen Bad Harzburg konnte sich Haußmann mit dem Vorschlag nicht durchsetzen.

Manche seiner Kollegen lehnten eine intensivere Arbeit der Justiz rundweg ab. Hubert Ney (CDU), Justizminister des Saarlands, verlangte, dem "Volke die verdiente Ruhe zu gönnen". Mit der Ruhe war es jedoch längst vorbei. Seit 1957 attackierte die DDR öffentlich "Hitlers Blutrichter in Adenauers Diensten". Die bewährte Haltung aus Abwehr und Ignoranz konnte sich die Bundesrepublik gegenüber ihren Verbündeten und einer zunehmend kritischeren Öffentlichkeit nicht mehr leisten. So fiel der Beschluss zur Gründung der neuen Behörde am 3. Oktober einstimmig aus.

Am 1. Dezember 1958 nahm die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in einem ehemaligen Gefängnis an der Schorndorfer Straße in Ludwigsburg ihre Arbeit auf. Die Kompetenz der Staatsanwälte war begrenzt. Sie sollten allein die außerhalb der Bundesrepublik verübten Verbrechen ermitteln. Die Verbrechen der Justiz, aber auch die Morde in den "Euthanasieanstalten" waren der Zentralen Stelle entzogen. Selbstständig Anklage erheben konnten die Ludwigsburger Staatsanwälte nicht.

Trotz der Restriktionen und einer zunächst dürftigen Ausstattung entwickelte die Zentrale Stelle eine erstaunliche Aktivität. Unter Leitung von Erwin Schüle, der bereits die Anklage im Ulmer Einsatzgruppenprozess geführt hatte, wurden binnen eines Jahres mehr als 400 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Sie betrafen die Morde der Einsatzgruppen in der Sowjetunion, die Ghettoräumungen im besetzten Polen und die Verbrechen in den Konzentrationslagern.

Schnell gab es spektakuläre Ergebnisse. So konnte im Sommer 1959 der Präsident des Landeskriminalamts von Rheinland-Pfalz Georg Heuser verhaftet werden. Der ehemalige SS-Hauptsturmführer war am Mord der jüdischen Bevölkerung in Weißrussland beteiligt. Mit den Erfolgen wuchs die Kritik an der Zentralen Stelle. Der Bürgermeister von Ludwigsburg sprach öffentlich von einem "bestimmten Geruch", der durch die Zentrale Stelle der Stadt anhafte. Bis zur Verjährung der in der NS-Zeit verübten Morde 1965 hoffte Schüle, sämtliche Taten zu erfassen. Doch die Ermittler stießen auf immer neue, bislang unbekannte Verbrechen. Die Tatorte lagen zumeist in Osteuropa.

Die dortigen Archive waren den Staatsanwälten verschlossen, da die Bundesrepublik keine diplomatischen Beziehungen zu den Ostblockstaaten unterhielt. Als sich Schüle dennoch um den Zugang zu den Akten bemühte, geriet er ins Kreuzfeuer der Schlussstrichapologeten und DDR-Propaganda. Vergeblich versuchte die Stasi, der bundesdeutschen Justiz den Weg zu den Archiven der sozialistischen Bruderländer abzuschneiden. Den Ludwigsburger Behördenleiter konnten Mielkes Männer jedoch zu Fall bringen, als sie Schüles NSDAP- und SA-Mitgliedschaft publik machten.

Das Material aus Polen sorgte 1964 für einen neuen Schub an Ermittlungsverfahren. Die Verjährungsfrist für Mord wurde 1965 erstmals verlängert und die Kompetenz der Zentralen Stelle auch auf die im Bundesgebiet verübten Verbrechen erweitert.

Die Bilanz der Zentralen Stelle ist zwiespältig: Die Staatsanwälte leiteten mehr als 7300 Ermittlungsverfahren ein. Davon waren knapp 106 000 Personen betroffen. Weniger als 6500 wurden jedoch rechtskräftig verurteilt. Die meisten nicht wegen Mordes, sondern wegen Beihilfe zum Mord. Darunter auch Leiter von Einsatzkommandos und Adjutanten von KZ-Kommandanten. Bei ihrer Arbeit trugen die Staatsanwälte hunderttausende Zeugenaussagen, Dokumente, Fotos zusammen.

Das einzigartige Archiv der NS-Verbrechen steht seit langem der Forschung offen. Neben Historikern und Archivaren arbeiten immer noch Staatsanwälte in Ludwigsburg. Das kleine Team um Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm führt derzeit noch mehr als 20 Ermittlungsverfahren. Sie betreffen prominente NS-Verbrecher wie den flüchtigen KZ-Arzt Aribert Heim und den KZ-Wärter Iwan Demjanjuk. "Ein Schritt voran ist getan worden, aber das Ziel noch weit", kommentierte die Stuttgarter Zeitung den Gründungsbeschluss der Justizminister vor 50 Jahren. Das Ziel, die NS-Verbrechen ahnden, ist auch im 21. Jahrhundert noch nicht erreicht.

Quelle: FR-Online
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