Overblog
Edit post Folge diesem Blog Administration + Create my blog

Der Untertassentheoretiker

14. Oktober 2008 , Geschrieben von Parents Veröffentlicht in #soziale Gerechtigkeit - gewerkschaftliche Kämpfe

junge welt 10.10.08
Der Untertassentheoretiker

Friedrich Thießen von der TU Chemnitz phantasierte kürzlich über einen Hartz-IV-Regelsatz von 132 Euro. Kein Wunder – seine Professur wird von der Commerzbank finanziert. Diese macht sich auch Gedanken über einen Bundeswehreinsatz in der Finanzkrise

Von Otto Köhler
Mit Prof. Thießen in die Geheimnisse des Investmentbankings eint

Nein, Trost, Erlösung gar, wird der Chemnitzer Lehrstuhlbesitzer Friedrich Thießen nicht finden, wenn er kommenden Mittwoch um 21.00 Uhr ins Café Weltecho an der Annaberger Straße 24 in der ehemaligen Karl-Marx-Stadt stürmt. Den aus dem hessischen Dreieich importierten Professor erwartet dort die böse Botschaft: »Wenn alle Stricke reißen, kann man sich nicht mal mehr aufhängen.« So heißt das ursprünglich nicht für Thießen geschriebene Kabarettprogramm mit Marc-Uwe Kling, das an diesem Abend gegeben wird. Es ist ohnedies die Frage, ob sich Professor Thießen noch den Eintrittspreis erlauben kann. Ermäßigt, für Hartz-IV-Bezieher, beträgt er immer noch fünf Euro – das ist das Fünffache des monatlichen Kulturbudgets, das er selbst für derlei Menschen berechnet hat. Und ach, die Wissenschaft des Professors – sie heißt Investmentbanking – ist so pleite, daß Friedrich Thießen von Rechts wegen devaluiert, abgewickelt, arbeitslos sein muß.

Aber nur von Rechts wegen. Trotzdem wäre ihm ein Strick dienlich. Denn wenn er sich seiner schnell bediente, ließe sich glaubwürdig erklären, warum der Erfinder des 132-Euro-Programms für Hartz-IV-Bezieher am 22.Oktober an der Universität am eigenen Lehrstuhl nicht vorgesehen ist.
Commerzbank steigt in TU ein
Dabei war Friedrich Thießen schon immer ein hervorragender Mann. Er habilitierte sich 1993 mit einer Arbeit über »Die kurzfristigen Wechselkurse« bei dem hochrenommierten Gewerkschaftsfresser Wolfram Engels. Der rühmte seinen Schüler im Vorwort der Habilitationsschrift: Er habe »bemerkenswerte Erkenntnisse über Marktabläufe und ihre Hintergründe« erzielt. Mutmaßlich gehört dazu – Seite 260 f. – Thießens Geschirrkunde: Untertassen definiert er als »schüsselartige Chartinformationen mit einem abfallenden linken Rand, einem Boden und einem ansteigenden rechten Rand«.

Diese Beschreibung mag in der Geschirr­industrie nicht ganz unstrittig sein. Doch Thießen macht daraus eine finanzwissenschaftlich einwandfreie Zauberformel des Neoliberalismus, die sich gerade in diesen Tagen in unserer Bankenwelt bewährt. Thießen erläutert: »Untertassen sollen das zeitlich langgestreckte Akkumulieren durch besser informierte Marktteilnehmer, mithin das zukünftige Steigen des Kurses anzeigen. Wenn in einem abwärtsgerichteten Markt plötzlich oder zunehmend gravierende Preisausschläge nach unten fehlen, dann kann dies Anzeichen für das Vorliegen einer Untertasse sein: Die Akkumulierenden nehmen alle Beträge, die zu den herrschenden oder tieferen Kursen angeboten werden, aus dem Markt. Da Informationen nicht vollkommen geheim bleiben können, gesellen sich nach einiger Zeit weitere Marktteilnehmer zu den ursprünglichen Akkumulatoren, was das langsame Ansteigen des rechten ›Untertassenrandes‹ bewirkt. Irgendwann sickern die Informationen aufgrund derer die besser Informierten mit der Akkumulation begonnen hatten, in den allgemeinen Markt, und die Kurse schießen davon.« Bedauerlich nur, daß unsere Banker – statt korrekt ihren Kaffeesatz zu lesen – sich heute ihre Untertassen gegen die Köpfe werfen. Thießen hat es, als er das 1994 schrieb, nicht gewollt.

Damals wurde der Untertassenmann – wie so viel gleichwertiger akademischer Schrott – aus Frankfurt am Main in den Osten entsorgt. Daran hatte die Commerzbank gefingert, weil sie – wen wundert so etwas heute noch – den Untertassentheoretiker brauchbar fand. Die Frankfurter Bank plazierte ihn als richtigen Professor in die Technische Universität Chemnitz. Zweck der Transaktion: »Aufbruch an den deutschen Hochschulen.« So heißt ein von Thießen herausgegebenes Sammelbändchen aus der Jahrtausendwende. Es protokolliert eine Konferenz im Frankfurter Haus der Commerzbank, die vom damaligen Rektor der Universität Chemnitz, Christian von Bor­czyskowski, und vom Commerzbank-Vorstandsmitglied Klaus Müller-Gebel veranstaltet wurde – oder eher umgekehrt.

Borczyskowski, der sich in seinem universitätsinternen Lebenlauf eines zweijährigen »military service« rühmt, kam von der Westberliner »Freien Universität« und avancierte endlich 1993 im Osten als 47jähriger zum »full professor« an der TU Chemnitz. Dort wurde der gediente Wessi alsbald zum Dekan ernannt, 1997 zum Rektor und wußte immer, wer Herr im Haus ist.

Commerzbanker Müller-Gebel aber verriet, was man sich bei der Thießen-Transaktion gedacht hatte: »Wir als Commerzbank weiten unsere nationalen und internationalen Aktivitäten ständig aus und stellen unsere Mitarbeiter immer wieder vor neue Herausforderungen (…). Geschäftsfelder wie das Investmentbanking sind heute für die Zukunft unserer Bank zunehmend bestimmend. Um uns dieser wachsenden Dynamik der Märkte erfolgreich zu stellen, brauchen wir Menschen, die bereit sind, sich permanent weiterzuentwickeln, und zugleich brauchen wir Universitäten, die diese Bereitschaft durch innovative Hochschulkonzepte fördern.«

Da hatte die Chemnitz, das dünne Rinnsal, längst die Beine breitgemacht. Oder, so erläuterte der Vorstandsmensch: »Als ein durchaus beispielhaftes Projekt auf diesem Feld betrachten wir unsere Zusammenarbeit mit der TU Chemnitz, bei der Vertreter unseres Hauses in engem Kontakt mit der Wissenschaft einen nennenswerten Teil der Vorlesungsreihe im Studiengang Investmentbanking gestalten.« Das alles unter der Führung des offiziellen Mitarbeiters der Commerzbank Friedrich Thießen, dem Chemnitzer Lehrstuhlinhaber, der völlig legal ein Gehalt von der Universität bezieht.

»Faule Professoren rausschmeißen«, diese Anregung äußerte im knappen Geleitwort zum »Aufbruch«-Bändchen der Vorstandssprecher der Commerzbank, Dr. Martin Kohlhaussen. Diese akademische Würde hatte er schon zwei Jahre vorher, 1998, als 62jähriger an sich gebracht. Von der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, die weitgehend der Commerzbank gehört, ließ er sich den Titel »Dr. rerum politicarum honoris causa« während eines akademischen Festaktes in der Chemnitzer Stadthalle zur Verschönerung seiner Visitenkarte übergeben.
Aufzucht des eigenen Nachwuchses
Den Titel erhielt er aber auch, und daran gibt es nichts zu deuten, wegen seiner »Verdienste für die wirtschaftliche Umstrukturierung in Ostdeutschland«. Die Verleihungsurkunde spricht offen über das Konkubinat von Geschäft und Wissenschaft: »Die Commerzbank und die TU Chemnitz arbeiten schon seit mehreren Jahren eng zusammen: Dies dokumentiert sich in gemeinsamen wissenschaftlichen Veranstaltungen, Forschungsprojekten und der Praktikantenbetreuung. Außerdem trägt eine Commerzbank-Stiftungsprofessur dazu bei, die studentische Ausbildung um Aspekte internationaler Bank- und Finanzprobleme zu erweitern.«

Das war die Stiftungsprofessur für den Untertassenforscher Thießen, der im September 2002 zusammen mit allen einschlägigen Commerzbankern das 792 Seiten dicke Handbuch zum neugestifteten Studienfach herausbrachte. Titel: »Investmentbanking«. Um was es beim Studienfach geht, schrieb Vorstandschef Dr. Kohlhaussen auch in diesem Vorwort: »Die Idee, was muß man tun, um Produkte zu verkaufen, ist die Frage, die sich wie ein roter Faden durch alle Kapitel zieht.« Tatsächlich sind all die Hütchenspiele wissenschaftlich bearbeitet, mit denen die Commerzbank ihre Kunden um deren Geld fürs Alter bringt.

Geschämt hat sich die Universität ihrer anrüchigen Verbindungen zur Commerzbank nie. Als alles anfing, ließ Professor Thießen ohne Probleme von der Universitätspressestelle unter der Überschrift »Die mit den Milliarden jonglieren – Neu in Deutschland: Studienrichtung ›Investmentbanking‹« diese Ankündigung verbreiten: »Am 21. Januar 1999 ist es soweit: Dann nämlich wird an der Chemnitzer Uni die neue und in Deutschland bisher einmalige Studienrichtung ›Investment Banking‹ feierlich mit den ersten Vorlesungen eröffnet. Um 14.45 Uhr wird zunächst Dr. Heinz J. Hockmann über die ›Grundlagen des Investmentbanking‹ sprechen, anschließend um 16.30 Uhr Alfred Schorno über den ›FX-Handel‹ (...). Das besondere daran: Dr. Hockmann ist kein Geringerer als der oberste Vermögensstratege der Commerzbank und Alfred Schorno ist bei der gleichen Bank als Chefdevisenhändler tätig. Auch sonst sind für den neuen Studiengang als Dozenten lauter hochkarätige Manager aus der Commerzbank-Zentrale in Frankfurt am Main vorgesehen. Die Privatbank engagiert sich schon seit geraumer Zeit stark auf dem Gebiet des Investmentbankings. (...)

Doch warum diese bisher in Deutschland ungewöhnliche Gestaltung der neuen Studienrichtung? ›Die besondere Stärke dabei liegt im Bezug zur Praxis‹, erläutert Initiator Prof. Dr. Friedrich Thießen von der Professur für Finanzwirtschaft und Bankbetriebslehre der Chemnitzer Uni. ›So können wir die Verhältnisse richtig verstehen und neue Lösungsansätze finden. Das Investmentbanking entwickelt sich stürmisch weiter. Eine gute Zusammenarbeit mit den Banken kann dem Fach und der Ausbildung nur nützen.‹« Die neue Studienrichtung stelle sicher, so Thießen 1999, »daß die Chemnitzer Studenten der Betriebswirtschaft die Uni mit topaktuellen und direkt anwendbaren Kenntnissen verließen«.

Der Professor verschwieg nicht, daß zumindest in Europa »der Beruf des Investmentbankers noch ziemlich neu« sei, ja bis vor wenigen Jahren war er »so gut wie unbekannt« gewesen. Aber, so versprach er, und das war nicht gelogen: »Beim Investment Banking ist mehr Geld zu verdienen als beim herkömmlichen Einsammeln und Verleihen von Geldern.« Und deshalb, so hieß es in der offiziellen Pressemitteilung, sei es »sehr wahrscheinlich«, daß »glänzende Karriereaussichten hat, wer sich für die neue Studienrichtung entscheidet«. Erfolgreiche Investmentbanker könnten, »locker auf 300000 Mark im Jahr kommen, selbst Gehälter von einer Million waren in der Vergangenheit keine Seltenheit und dürften auch in Zukunft nicht ausgeschlossen sein«.

Um »in diese Kreise aufzusteigen«, genüge jedoch eine wirtschaftswissenschaftliche Ausbildung nicht: »Perfekte englische Sprachkenntnisse etwa sind ein ›Muß‹.« Deshalb ließ der Stiftungsprofessor von der Universitätspressestelle auch eine ihn betreffende wichtige Innovation mitteilen: »Englisch ist längst zur internationalen Finanzsprache geworden. Wir sollten es nicht mehr als erste Fremdsprache, sondern als unsere zweite Muttersprache ansehen.« Konsequent hat der Bankenexperte denn auch seinen Briefkopf ergänzt – seit kurzem heißt es dort nicht nur »Finanzwirtschaft und Bankbetriebslehre« sondern auch »Corporate Finance – Commercial Banking – Investment Banking«.

Knapp zwei Jahre später, Ende 2000, freute sich unter dem Betreff: »Eintauchen in die Geheimnisse des Investmentbanking – In Chemnitz lehren Commerzbank-Manager, wie man große Vermögen verwaltet« die Universitätspressestelle immer noch: »Sie ist noch nicht einmal zwei Jahre alt, die Studienrichtung ›Investmentbanking‹. Doch diese kurze Zeit hat gereicht, sie zu einem der beliebtesten Fächer an der Chemnitzer Uni zu machen. Die Gründe dafür sind einfach – kaum ein anderes Gebiet in den Wirtschaftswissenschaften ist so interessant, und kaum ein anderes bietet so gute Chancen auf eine glanzvolle Karriere. Zudem ist die Chemnitzer Uni immer noch die einzige Hochschule, die dieses Fach in Deutschland anbietet. Mehr noch: Nirgendwo sonst in Deutschland sind Theorie und Praxis des Investmentbanking eine so enge Bindung eingegangen wie in Chemnitz (…). Vom 25. bis 27. Oktober 2000 ist wieder einmal fast die halbe Geschäftsleiterebene der Commerzbank an der Chemnitzer Uni zu Gast, um die Studenten in einem dreitägigen Intensivkurs in die Geheimnisse des internationalen Börsengeschäfts einzuführen (…). Am Mittwoch lädt Vorstandsmitglied Dr. Hockmann zudem betuchte Commerzbank-Kunden aus der Region Chemnitz in das Panoramarestaurant des Mercure-Hotels ein.«

Und da erfaßte den Leiter der Universitätspressestelle – er weiß vielleicht bis heute nicht, wie ihm das geschah – ein Anflug von Galgenhumor: »Wer im Hotel einen Blick aus dem Fenster wirft, guckt übrigens geradewegs auf das bekannteste Wahrzeichen von Chemnitz, den 7,20 Meter hohen und 40 Tonnen schweren Bronzekopf von Karl Marx. Es gibt ihn aber auch in kleiner, als Sparbüchse im Souvenirladen gleich daneben. Die ziert eine sinnige Aufschrift: ›Mein Kapital‹«. – Übrigens: Am 13. Oktober 2008 wird im Stadtverordnetensaal des Rathauses die Ausstellung »Wo studiert? In Chemnitz!« eröffnet. Unter dem Universitätsleitspruch »Studieren in Chemnitz. Wissen, was gut ist« gibt es unter den »wertvollen Schätzen« auch »Vollwichs« – die Uniform der Studentenverbindung »Teutonia« zu beschauen. Doch vom Krieg, später.
Dialog mit der Bundeswehr
Von Professor Thießen allerdings sieht man an der Universität seit Anfang September nicht mehr viel. Da kam seine Studie heraus, die wissenschaftlich einwandfrei nachwies, daß einem Hartz-IV-Bezieher 132 Euro im Monat durchaus reichen (siehe jW vom 6.9.2008). Die Studie hat den guten Zweck, die Arbeitslosigkeit in Deutschland zu senken. Wem dieses Geld nicht reicht, der kann für rund 3000 Euro als Sterbehelfer für afghanische Frauen und Kinder zur Bundeswehr gehen.

Ob man es aber nach dem doch etwas problematischen Öffentlichkeitserfolg der 132-Euro-Studie bei der Commerzbank noch für klug hält, sich mit Professor Thießen sehen zu lassen, ist fraglich. Übernächsten Mittwoch, am 22. Oktober, um 9.00 Uhr beginnt, wenn Angela Merkel soviel Hohn für die Opfer nicht doch noch hintertreibt, an Professor Thießens Lehrstuhl, Raum N113 im Neuen Hörsaalgebäude, Reichenhainer Str. 90, erneut ein Schulungsprogramm für Investmentbanking, das von alten und neuen Commerzbankern mit Lehrvorträgen bedacht wird.

Nach der Einführung ins Investmentbanking gibt es bis Freitag abend Lehrvorträge für all die Gaunereien, mit denen die Banken die deutsche Wirtschaft an den Abgrund gebracht haben: Kreditprodukte, Kreditderivate, Hedgefonds und so fort. Für an der TU Chemnitz immatrikulierte Studenten und eingeschriebene Gasthörer ist die Teilnahme kostenlos. Die Möglichkeit zur Teilnahme an der Klausur im Februar 2009 zum Scheinerwerb oder zum Erwerb des Zertifikats »Investment Banking« besteht. So sieht es jedenfalls das diesen Dienstag aktualisierte Programm vor. Nur vom Stiftungsprofessor Thießen ist keine Rede mehr. Hat er doch noch seinen Strick gefunden?

Die Oberen der Commerzbank sind längst schon weiter. Am 16. Januar 2007 suchte der gegenwärtige Aufsichtsratsvorsitzende Hans-Peter Müller als – damals noch – Vorstandsvorsitzender der Commerzbank die Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg-Blankenese auf zu einer vertraulichen Besprechung mit dem Nationalen Lehrgang Generalsstabs-/Admiralstabsdienst (LGAN) über die Sicherung der deutschen Rohstoffbasis durch verstärkte Auslandseinsätze der Bundeswehr.

Besonders wichtig aber war für den Commerzbankchef, die Vormachtstellung der USA durch militärische Unterstützung ihrer Satelliten in aller Welt zu halten. Müller: »Die Schwellenländer verzeichneten 2006 durch ihre Auslandsinvestments einen Kapitalabfluß von 1700 Milliarden Dollar. Dem entsprachen Kapitalzuflüsse von 1860 Milliarden Dollar in den Vereinigten Staaten.« Seine Schlußfolgerung im Januar 2007: »Somit hängt das Wohl und Wehe der Vereinigten Staaten besorgniserregend von der Bereitschaft weltweiter, vor allem asiatischer Investoren ab, ihr Geld in den USA anzulegen. Ihnen verdankt es also die amerikanische Regierung, daß sie hohe Haushaltsdefizite und Rüstungsbudgets finanzieren kann. Denn die Bürger der größten politischen und wirtschaftlichen Macht der Welt konsumieren und investieren zwar seit Jahren mit bewundernswerter Dynamik. Sie sparen aber so gut wie nichts. Das heißt, sie müssen zum Ausgleich für ihre enormen Importüberschüsse, Haushaltsdefizite und Kapitalexporte Jahr für Jahr ein Leistungsbilanzdefizit zwischen 700 und 800 Milliarden Dollar ausgleichen – und das geht nur mit Hilfe von Kapitalimporten in dieser enormen Höhe.«

Das gelinge, weil sozusagen »die ganze Welt« für die USA spart. Daß es so auf Dauer nicht bleibt, hat Müller frühzeitig erkannt: »Daher haben Finanzdienstleister schon weit vor ›9/11‹ Ersatzrechenzentren eingerichtet und üben regelmäßig ›generalstabsmäßig‹ den Ernstfall – also z. B. Erreichbarkeit und Einsatz von Schlüsselpersonen bei Ausfall großer Teile der üblichen Infrastruktur oder der Belegschaft. An der Stabsrahmenübung LÜKEX 2007 unter Annahme einer Pandemie in Deutschland war die Commerzbank ebenfalls aktiv beteiligt. Und im Rahmen der militärisch-zivilen Zusammenarbeit ist einer unserer Mitarbeiter im Range eines Majors d. R. einer von drei Offizieren des Kreisverbindungskommandos Frankfurt, das bei Krisen die Unterstützung der Bundeswehr für die Stadt Frankfurt koordiniert.« Das gilt auch für die Zusammenarbeit in Zeiten, in denen die »Funktionsfähigkeit des Finanzsystems« bedroht ist. Müller ahnungsvoll: »Im schlimmsten Fall kommt es zu einem Run auf die Bankschalter und zum Zusammenbruch der gesamten Geld- und Währungsordnung.«

Vor den Generalstäblern in Hamburg-Blankenese verlangte der Commerzbankchef aber auch mehr Großdeutschland für die Zukunft. Denn der »ökonomische Riese« dürfe und könne sich nicht auf Dauer als »politischer Zwerg« verstecken. Darum braucht es einen »engeren Schulterschluß zwischen Politik, Bundeswehr und Wirtschaft«. Müller: »Auf das hierfür nutzbare, aber in meinen Augen fast sträflich vernachlässigte Potential in der Wirtschaft tätiger Reserveoffiziere weise ich gern und deutlich hin. Die Commerzbank hat auf mein Betreiben mehrere Initiativen ergriffen, um den sicherheitspolitischen Dialog mit der Wirtschaft zu fördern.«

Die Warnung verdient, beachtet zu werden. Es wird wichtig sein festzuhalten, welche Wirtschaftsfunktionäre Mitglied der Bundeswehr waren und heute noch als Reserveoffiziere Kontakt zum Militär halten. Diesen Leuten mit der gebotenen Vorsicht zu begegnen, kann beim soeben beschlossenen Einsatz der Bundeswehr im Innern für die Bürger lebensrettend sein. Wie sein Vorgänger Kohlhaussen ist Müller selbst Reserveoffizier der Bundeswehr.

Die Commerzbank hat bereits viermal die Veranstaltung »Die Wirtschaft an der Seite der Bundeswehr« ausgerichtet. Zweck: »Wir führen hierbei hochrangige Führungskräfte der Wirtschaft, die bislang keinen oder nur geringen Kontakt zur Bundeswehr hatten, mit hochrangigen Offizieren aus dem Ministerium sowie Kommandeuren der Bundeswehr zusammen. Mit Vorträgen – zuletzt des Inspekteurs Heer, General Hans-Otto Budde –, in der Diskussion oder beim anschließenden Abendessen mit Serenade des Heeresmusikkorps ergeben sich regelmäßig eine Vielzahl neuer, interessanter Kontakte und Erkenntnisse.«

Dasselbe gelte für den 2007 von der Commerzbank zusammen mit der 1. Panzerdivision ins Leben gerufenen »Celler Trialog«. Vor den Generalstabsoffizieren kündigte Müller bereits den zweiten Celler Trialog an. Er fand im vergangenen Juni statt zum erneuten »Schulterschluß« zwischen »Wirtschaft, Bundeswehr und Banken«, weil in Deutschland die »Einsicht in die Notwendigkeit« mit den »gewachsenen Aufgaben« nicht »Schritt gehalten« habe.

Vor der »hochkarätig besetzten Konferenz« erinnerte Aufsichtsratschef Müller an den »Auslandseinsatz« der deutschen Elf bei der Fußball-Europameisterschaft und wünschte sich »einen Bruchteil dieser wohlverdienten Aufmerksamkeit auch für die täglichen, seit Jahren erbrachten Höchstleistungen unserer Soldatinnen und Soldaten, gerade jener im Auslandseinsatz«. Die »Mannschaftsleistung der Bundeswehr« verdiene mehr Wertschätzung, mehr Unterstützung – ideell, »aber auch materiell!« Dazu braucht es auch eine »Initiative zwecks Förderung der Reservisten in Industrie und Wirtschaft« zur »Intensivierung der zivil-militärischen Zusammenarbeit«.

Undankbare Commerzbank: Ihren Professor Thießen hat sie vergessen, der mit seiner 132-Euro-Studie soviel für den personellen Fortbestand der Bundeswehr tut.

* Otto Köhler ist freier Journalist sowie Autor von »Rudolf Augstein. Ein Leben für Deutschland« (München 2003)

Quelle: junge Welt


Diesen Post teilen
Repost0
Um über die neuesten Artikel informiert zu werden, abonnieren:
Kommentiere diesen Post