Celler Seilschaften deckten Jahrzehnte einen Nazi
Mediziner würden vermutlich
einen schweren Rückschlag
feststellen: Seit Jahren bemüht
sich die Stadt Celle,
ihre Nazivergangenheit aufzuarbeiten
und das Image „Braunes Nest in der Heide“
abzustreifen. Doch die dabei
schmerzhaft erzielten Erfolge sind in
diesen Tagen nahezu bedeutungslos geworden,
denn Zeitzeugen haben nachgewiesen,
dass in Celle die NS-Zeit mit
dem Zusammenbruch von Hitler-
Deutschland im Mai 1945 noch lange
nicht zu Ende war. Naziseilschaften
existierten bis weit in die siebziger Jahre
hinein. Unbehelligt nahmen sie Einfl uss
auf die Kommunalpolitik, schützend
stellten sie sich vor Männer und Frauen,
die während des Zweiten Weltkrieges
schwere Verbrechen begangen hatten.
Auslöser der aktuellen Schockstarre in Celle ist das Ehepaar Fritz und Helene
Darges. Es lebte jahrzehntelang in der
Juristenstadt und
zählte bis vor wenigen
Tagen zu
den angesehenen
Persönlichkeiten
in der Oberschicht
der Stadt. Erst
nach der Beerdigung
von Fritz
Darges am 18. November
dieses
Jahres wurde seine
Vergangenheit
bekannt. Darges
war bis zum 18.
Juli 1944 einer von
Hitlers Adjutanten
und stand anschließend
als
Obersturmbannführer
an der Spitze
der SS-Division
„Wiking“. Nach
dem Krieg engagierte
er sich mehr als 40 Jahre lang als
Schatzmeister in der „Ordensgemeinschaft
der Ritterkreuzträger“, der Interessenvertretung
von Soldaten und SSLeuten,
die vor 1945 mit höchsten Tapferkeitsmedaillen
ausgezeichnet worden
waren. Darges starb in diesem Herbst im
Alter von 96 Jahren.
Seine Ehefrau Helene lernte der in der
Altmark geborene Darges Anfang der
fünfziger Jahre in Celle kennen. Er arbeitete
in jenen Tagen in der Reparaturannahme
eines Autohauses, sie war seit
dem 1. Oktober 1943 Oberärztin in einem
Celler Krankenhaus und war bis
zu ihrer Pensionierung im Jahre 1976
Chefärztin der Kinderabteilung in dieser
kommunalen Klinik – obwohl sie
1942 und 1943 in Hamburg unter ihrem
Mädchennamen Helene Sonnemann an
der Ermordung von mindestens 56 behinderten
Kindern in der Kinderklinik
Rothenburgsort beteiligt war. Verurteilt
wurde sie genauso wenig wie ihre
Mittäter, es wurde schlicht keine Anklage
erhoben. Erst jetzt wird das Euthanasie-
Verbrechen in Hamburg von
einer Religionslehrerin und einer Kinderärztin
aufgearbeitet.
In Celle ist das dunkle Kapitel im Lebenslauf
der vor elf Jahren gestorbenen
Frau nie diskutiert worden, wohl aber
ihre „Heldentat“ während des Krieges.
Gemeinsam mit anderen Ärzten und
Krankenschwestern führte sie im Juli
1943 rund 300 Kinder aus dem zerstörten
Hamburg in die bis dahin vom Bombenangriffen
verschonte Kreisstadt in
der Heide. Als Lohn für diese Rettungstat
gab’s den Kriegsverdienstorden. Bis
Ende vergangener Woche war er im Celler
Garnisonmuseum ausgestellt. Jetzt
wurde er gemeinsam mit anderen Erinnerungsstücken
aus dem Leben der Kinderärztin
in eine verschlossene Schublade
verbannt.
Ob Helene Darges-Sonnemann bei ihrem
berufl ichen Aufstieg Unterstützung
vom damaligen Oberkreisdirektor Axel
Bruns erhielt, ist bisher nicht geklärt. Sicher
ist jedoch, dass der Hauptmann a. D.
und Ritterkreuzträger Bruns Einfl uss
auf die Karriere ihres Mannes nahm.
Fritz Darges, im Autohaus zwar angesehen,
aber unterfordert, wurde 1966 zum
DRK-Kreisgeschäftsführer berufen.
Zehn Jahre lang übte er dieses Amt aus – zur vollsten Zufriedenheit von Bruns.
1976 trat er in den Ruhestand, hochgelobt
für seinen Einsatz während der
Brandkatastrophe in der Heide 1975 und
für seine Erfolge bei der Ausbildung von
Rettungssanitätern.
Erst heute wurde durch Recherchen
der „Celleschen Zeitung“
bekannt, dass Darges nicht
nur von Bruns geschützt
und gefördert wurde. Schon
bei der sogenannten Entnazifi
zierung halfen ihm „gute
Bekannte“. Obwohl Darges
schon 1934 in Bad Tölz als einer der Ersten
an der SS-Junkerschule ausgebildet
und rasch ein enger Mitarbeiter von
Martin Bormann wurde, stufte man ihn
nicht als Hauptschuldigen ein. Ein Mitarbeiter
aus seinem Divisionsstab trug
dazu bei, dass er als „minderbelastet“
davonkam. 500 Mark Strafe hatte er zu
zahlen, nach drei Jahren Gefangenschaft
bei der US-Armee und kurzer Internierung
konnte er bald seine Nachkriegslaufbahn
starten.
Darges musste sich in Celle nie verstestecken.
Er wusste immer gute Freunde in
seiner Nähe. Ob sie allerdings alle von
ihm erfuhren, wie eng er tatsächlich mit
Hitler und dessen Freundin Eva Braun
zusammengearbeitet hatte, lässt sich
nicht mehr feststellen. Immerhin, er ließ
sich gelegentlich von Historikern interviewen.
Dabei gab er klar
zu erkennen, dass er zeit
seines Lebens ein Verehrer
Adolf Hitlers war. Der
überzeugte Nazi machte
auch nie einen Hehl aus seinem
Stolz, der Waffen-SS
angehört zu haben.
Während im Internet braune Gesinnungsgenossen
dem Obersturmbannführer
Darges nachtrauern, macht sich
die Stadt Celle daran, ihre Vergangenheit
weiter aufzuarbeiten. Oberbürgermeister
Dirk-Ulrich Mende (SPD) treibt
die Einrichtung eines NS-Dokumentationszentrums
voran. Das Stadtparlament
hat bereits vor Bekanntwerden der Darges-
Verstrickungen beschlossen, von einer
hochkarätig besetzten Expertenkommission
sämtliche Straßen, Plätze und Sportstätten darauf überprüfen zu lassen, „ob ihre Namensgeber sich im
Dritten Reich ins Unrecht gesetzt haben“.
„Das ist vorbildlich und sucht seinesgleichen
im Bundesgebiet“, merkt die
städtische Pressestelle dazu an.
Zwei Straßennamen sind in den vergangenen
Jahren bereits geändert worden.
Eine war dem früheren Oberbürgermeister
Kurt Blanke gewidmet, die
andere dessen Vorgänger Ernst Meyer.
Blanke, Oberbürgermeister von 1964 bis
1973, fiel als Namensgeber in Ungnade,
nachdem im April 2008 zweifelsfrei
nachgewiesen worden war, dass er während
des Zweiten Weltkrieges entscheidend
zur Judenverfolgung in Frankreich
beigetragen hatte.
Meyer, Oberbürgermeister von 1924
bis 1945, geriet 2007 als Ehrenbürger in
Verruf, weil Historiker herausfanden,
dass er nicht nur ein aktiver Nazi war,
sondern auch an der Judenverfolgung in
Celle mitgewirkt hat. Überdies hat er im
April 1945 veranlasst, dass Celler Bürger
auf flüchtende KZ-Häftlinge schossen.
Quelle: Hannoversche Allgemeine Zeitung 18.12.2009