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Mut zur Wut

16. November 2009 , Geschrieben von Parents Veröffentlicht in #Bildung

Analyse. Der bundesweite Bildungsstreik zeigt Wirkung. Würden einige Mängel in der Bewegung behoben, könnte er aber effektiver sein. Eine selbstkritische Einschätzung
Von Peter Grottian, Michael Kolain und Sebastian Zimmermann

Die dezentrale Bildungsstreikbewegung im Juni 2009 hat die Bildungsfrage auf die innenpolitische Tagesordnung gesetzt. Die Initiatorinnen und Initiatoren waren selbst von der Dynamik überrascht, und die Politik reagierte bisher wenig souverän. 270000 Protestierende auf den Straßen – die größte unabhängige Bildungsbewegung seit Jahrzehnten. Sie war demokratisch, dezentral angelegt und durch eine zarte Klammer gemeinsamer Forderungen für überregionale Botschaften zusammengehalten. Es war ein Streik der vielen tausend Gesichter. Die lokalen Bündnisse prägten das Bild und nicht bundesweit hervorstechende Wortführer. Die Presse hatte zurecht Schwierigkeiten, Sprecherinnen und Sprecher bzw. Organisatorinnen und Organisatoren für den Mediengebrauch auszumachen. Basisdemokratie war ein flächendeckendes Konzept, das bewußt auf die Großdemonstration verzichtete. Eine Balance von gängigen Protestformen (Demos, Versammlungen, Debatten) und Aktionen des zivilen Ungehorsams (Instituts- und Rektoratsbesetzungen, Straßenblockaden, Belagerungen, symbolische Banküberfälle) hat den streikenden Studierenden sowie Schülerinnen und Schülern überwiegend Sympathie und Unterstützung durch Öffentlichkeit und Medien eingebracht. Der Bildungsstreik hat den schon länger gährenden Unmut – auch bei den Lehrenden – über die miserablen Zustände an den Schulen und Hochschulen – die Kitas nicht zu vergessen – zum Vorschein gebracht.

An und in den Bildungseinrichtungen wurden kontroverse, aber fruchtbare Debatten über grundlegende Fragen und Perspektiven des Bildungssystems geführt. Eine neue politische Welle hat das Land erstmals seit Jahren erfaßt. Die oft als unpolitisch gescholtene Jugend setzte ein sichtbares Zeichen für Veränderung. Vielerorts wurde nun eine Diskussion über konkrete Veränderungen angestoßen. Dieser erste Erfolg wäre nicht ohne ein breites Bündnis möglich geworden: Gewerkschaften, soziale Gruppen, einige Rektoren und Präsidenten, Hochschullehrerinnen und -lehrer, der akademische Mittelbau sowie Lehrerinnen und Lehrer unterstützten den Streik und ließen eine kritische Sympathie erkennen oder freuten sich – zumindest wenn sie mit Studierenden und Schülern allein waren. Kurz: Der Bildungsstreik war die überraschendste soziale Bewegung des Jahres 2009 und konnte erstaunlich breit mobilisieren.

Klägliche Verteidigung

Die einzige Gruppe, die sich zunächst bedeckt hielt, waren die Politiker. Neben Respektsbekundungen seitens Bündnis90/Die Grünen und Die Linke, fiel die Bundes-SPD durch nahezu komplette Abwesenheit auf. Frank-Walter Steinmeier, zu der Zeit Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten, konnte mit dem Streik einfach nichts anfangen, er war ihm von der Protestform her fremd. Daß die CDU den Bildungsstreik gar als linke, instrumentalisierte Wahlkampagne denunzierte, zeigte – jenseits des lächerlichen Bildungsgipfels im Oktober 2008 – einmal mehr, daß die Kanzlerin Angela Merkel und ihre CDU/CSU wenig von den Problemen an Schulen und Hochschulen verstanden haben. Auch die herablassende Art der alten wie neuen Bundesbildungsministerin, Annette Schavan, den Bildungsstreik zum Teil als »gestrig« zu bezeichnen, weist darauf hin, daß diese Ministerin eher in Forschungsküchen und Elitekreisen zu Hause ist als bei den konkreten Problemen von Schülerinnen, Schülern und Studierenden. Die FDP war einstmals auch eine Bildungspartei. Ihr Bildungspolitiker, der Soziologe Ralf Dahrendorf, würde sich im Grabe umdrehen, hätte er seine FDP vernommen: Sie sah im Bildungsstreik »anarchistische Gewalt«.

Die Kultusministerkonferenz (KMK) reagierte zunächst kopflos auf den Bildungsstreik. Ein Diskussionsgesuch der Studierenden, der Schülerinnen und Schüler anläßlich ihrer Konferenz im Juni 2009 in Berlin lehnte sie zunächst ab. Als der öffentliche Druck größer wurde, bot sie ein knappes Gespräch mit lediglich vier ihrer 29 Bildungs- und Kultusminister an. Das Gespräch war sachlich, zwar sehr kurz, aber man verständigte sich auf eine im weiteren noch zu vereinbarende Kommunikation. Die fehlende Resonanz der Regierenden läßt auf Sprachlosigkeit und Unfähigkeit schließen, sich mit den streikenden Bürgerinnen und Bürgern auseinanderzusetzen.

Bachelor alten Typs abgeräumt

Insgesamt fällt bei der Reaktion der Politik auf, wie kläglich die Verteidigung der bisherigen Bildungspolitik ist. Kein Politiker, keine Rektorin, kein Professor hat den Schmalspur-Bachelor nach sechs Semestern wirklich noch verteidigt. Die glühendsten Verfechter von Bachelor- und Masterstudiengängen sind ganz leise geworden – weil sie sehen und zum Teil auch einsehen, was da angerichtet worden ist. Kurz: Der Bachelor in seiner bisherigen Form hat keinen öffentlichen Rückhalt mehr. Kaum eine Professorin wird noch mit Überzeugung die Hand für einen sechssemestrigen, verschulten Bachelor heben, wenn eine Prüfungsordnung verabschiedet wird. Die Hochschulen stehen nach dem Bildungsstreik vor einer Revision.

Ob die Landesregierungen die dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung stellen werden, steht allerdings in den Sternen und könnte im Endeffekt dazu führen, daß der bisherige Weg der Sachzwanglogik und Unzuständigkeitserklärung für das Desaster zwischen Hochschulleitungen, Ministerien und angeblich verpflichtenden »Bologna-Beschlüssen« fortgesetzt wird. 28 Milliarden Euro durch das Konjunkturpaket und den Bund-Länder-Pakt für Baumaßnahmen investieren – für Kita-Anstriche, Austausch von Kloschüsseln und Turnhallenbau –, aber für die Lehr- und Lernbedingungen von Schülerinnen, Schülern und Studierenden nichts konkret tun, das geht jetzt nicht mehr, ging aber noch ohne öffentlichen Aufschrei vor dem Streik.

Doch die grundsätzliche Kritik am System Bologna wurde von der Öffentlichkeit kaum aufgegriffen. Im Rahmen der Lissabon-Strategie soll Europa zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt« werden. Bildung wird so zuvorderst auf ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit reduziert und schließlich im Rahmen des »Allgemeinen Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen« (General Agreement on Trade in Services, GATS) nur noch als Dienstleistung aufgefaßt. Echte Mitbestimmung der Betroffenen ist da ein Fremdkörper, denn sie sollen als Kunden nur noch über das Ob, nicht aber über das Wie des Lernens entscheiden. Beim Bologna-Prozeß stehen »arbeitsmarktrelevante Qualifikationen« im Vordergrund, während die Studierenden, Schülerinnen und Schüler eine den Menschen zu kritischem Urteilen befähigende, demokratisch organisierte Bildung einfordern. Dieser grundsätzliche Konflikt über das Verständnis von Bildung bleibt trotz der massenhaften Mobilisierung zwischen den Verantwortlichen in der Politik und den Streikenden unausgefochten. Vielfach wurde er totgeschwiegen. Der Bildungsstreik hat Aufmerksamkeit erregt, doch die weltweite Ökonomisierung von Bildung schreitet weiter voran.
Reförmchen statt Verbesserungen

Was aber folgt aus dem Bildungsstreik? Nach diesem ersten Erfolg haben sich die Schülerinnen, Schüler und Studierenden für November/Dezember 2009 auf weitere gemeinsame Proteste verständigt. In diesen Tagen sind – ermuntert durch die Proteste in Österreich – über 20 Hochschulen besetzt und der Bildungsstreik damit ein wenig vorgezogen worden. Erneut sind Massenproteste, Aktionen des zivilen Ungehorsams, wie z.B. eine Blockade der KMK-Sitzung in Bonn, im Dezember geplant. Einige alternative landespolitische Bildungsgipfel werden stattfinden, um die politischen Landesverantwortlichen herauszufordern.

Am 7. Juli 2009 trafen sich in Berlin im Hause Schavan die Bildungsstreikenden, Wissenschaftsorganisationen und Hochschulrektoren. Das Gespräch war eine Politshow – aber immerhin sagte die Bildungsministerin zu, daß jeder und jede einen Zugang zum Master haben sollte. Damit hatte sie ihre eigenen Exzellenzvorstellungen relativiert. Die Kultusminister haben sich angsthäsig hinter ihren Finanzministern versteckt. Bisher ist noch keine Bereitschaft erkennbar, sich mit den Streikzielen der Protestierenden auseinanderzusetzen. Vor allem die Forderungen von Schülerinnen und Schülern nach Abschaffung von »G8«, dem achtstufigen Gymnasium, nach Abschaffung des mehrgliedrigen Schulsystems und weniger wirtschaftlichem Einfluß verhallten unbeachtet. Die KMK hat nun im Oktober 2009 mit eher windelweichen Absichtserklärungen ­etwas grundsätzlicher auf den Bildungsstreik reagiert. Man merkt dem Dokument die Zerrissenheit der Bundesländer und ihr noch immer krampfhaftes Festhalten an einer selbstproduzierten Orgie des Bürokratieprozesses an. Nachjustieren ist das Zauberwort, um nicht die eigenen Fehler wirklich eingestehen zu müssen.

Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) ist da schon mutiger und fordert eine generelle Überarbeitung der bisherigen Studienkonzeptionen und Mittel dafür, einen offeneren und differenzierteren Bildungsprozeß auch mit mehr qualifiziertem Personal bewältigen zu können.

Auch die neue Bundesregierung hat nicht nur Bildungsanstrengungen in die Überschrift ihres Koalitionsvertrags gesetzt, sondern ebenso eine jährliche Aufstockung um drei Milliarden Euro für Bildung zugesagt. Noch sind die Konturen sehr unscharf – aber das geplante Stipendienprogramm ist ein typisches FDP-Leistungsträgerprojekt und in der Finanzierung so voraussetzungsvoll, daß die geplanten Mitfinanzierer, die Unternehmen und Dienstleister, eine beredte, schweigsame Position einnehmen: Sie wollen offenkundig keine Mittel bereitstellen.

Gemeinsam ist allen Reaktionen von HRK, KMK und Bundesregierung, daß sich fast nichts an der gegenwärtigen Lehr-Lern-Situation an Schulen und Hochschulen ändern wird. Strukturelle Veränderungen sind nicht angesagt, sondern nur »reformieren« an der bestehenden schlechten Zweiklassenbildung. Es regiert der Verschiebebahnhof politischer Verantwortlichkeit und nicht ein wirklicher/effizienter Arbeitsprozeß, der auf massive Korrekturen setzt. Die Studierenden haben inzwischen die KMK-Beschlüsse scharf zurückgewiesen.

Defizite der Bewegung

Trotz allem unverhofften Erfolg sind Strukturdefizite nicht zu übersehen: Erstens gab es eine thematische Schieflage zwischen Schul- und Hochschulproblemen zugunsten der letzteren. Nur die Kritik am »Turboabitur« drang durch, ansonsten wurden eher die Probleme der Hochschulen öffentliches Streitthema. Es gab erhebliche Abstimmungsprobleme zwischen Schülerinnen, Schülern und Studierenden in der Öffentlichkeitsarbeit. Die thematische Schieflage war so schon in den Bündnissen zwischen beiden Gruppierungen erkennbar.

Zweitens: Der Bildungsstreik hat bewiesen, daß Zentralität und strikte Dezentralität, sinnvoll aufeinander bezogen, eine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung erzeugen können. Ohne die strikte Dezentralität wäre die basisdemokratische Mobilisierung von 270000 Protestierenden nicht möglich gewesen. Eine zentrale Demonstration, die sehr bewußt nie ins Auge gefaßt worden ist, hätte gerade den massenhaften Aufbruch von unten unterhöhlt. Andererseits: Ohne die zentrale Pressekonferenz in Berlin und ohne die mühsam erhobenen Zahlen und Fakten über die Gesamtmobilisierung wäre der öffentliche Durchbruch schwerlich möglich gewesen. Liveticker, Pressemitteilungen, ständig ansprechbare Pressekontakte und eine detaillierte Liste von Ansprechpartnern aus den lokalen Bündnissen machten es möglich, das Interesse der Medien an die dezentralen Strukturen weiterzuleiten.

Erst die Wucht der Mobilisierung zerstreute die Zweifel in den Medien, daß nur ein paar tausend Protestierende (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Spiegel, Freitag) unterwegs seien. Daß die politischen Fronten mit dem Bildungsstreik durcheinander gerieten, hat der öffentlichen Akzeptanz des Streiks genutzt. So unterstützte zwar die FAZ nicht den Bildungsstreik, aber schrieb vernichtende Urteile über den Bologna-Prozeß und die Lehr-Lern-Situation an den Hochschulen. Wenigstens vorsichtige Unterstützer des Bildungsstreiks waren ARD, ZDF, FR, Süddeutsche Zeitung, Berliner Zeitung – während Focus, Der Spiegel, Tagesspiegel, Die Welt und Freitag ohne erkennbare Konturen blieben. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkstationen (HR, WDR, NDR, RBB, SWR, SR, MDR u.a.) sympathisierten mit dem Bildungsstreik und spiegelten mit ihren dezentralen Strukturen auch die Protestbewegung regional wider. Offensiv unterstützten junge Welt und taz die Streiks. Über die privaten Medien liegt bisher nach unserer Kenntnis keine genauere Auswertung vor.

Drittens: Die Mobilisierung stand mehr auf der Kippe als sich die Bewegungsaktivisten eingestehen wollten. In den Seminaren war die Mobilisierung nach allgemeiner Auffassung unzureichend. Die Dynamik setzte erst in der buchstäblich letzten Minute auf den gut besuchten Vollversammlungen der Hochschulen ein. Die echte Unterstützung der Hochschullehrenden blieb öffentlich aus, nur wenige von ihnen waren bei den Demonstrationen präsent. Sie sind in weiten Teilen opportunistisch. Sie schluckten mit wenig Protest die Bachelor/Master-Logik und erwarteten von sich und den Studierenden keinen ernsthaften Protest. Kurz: Das Mobilisierungspotential an Schulen und Hochschulen blieb in weiten Teilen weit hinter den Möglichkeiten (Mittelbau, Lehrbeauftragte, sonstige Mitarbeiter) zurück.

Viertens: Durch die lokale und regionale zentrale Organisation sind beeindruckende Dynamiken entstanden, die aber nur in Einzelfällen auch bundespolitisch durchgeschlagen sind (Heidelberg, Düsseldorf, Hamburg, Göttingen, Leipzig u. a.). Es gab große weiße Flecken auf der Streiklandkarte, wo es ganz ruhig blieb und Protestaktionen rar waren.

Falsche Projektionen

Fünftens: Der Bildungsstreik litt nach den ersten beiden Bundestreffen an einer Unkultur des politischen Mißtrauens bis hin zu selbstzerstörerischen Tendenzen. Natürlich gehört es zu einer basisdemokratischen Bewegung, möglichst jede Machtkonzentration zu vermeiden. Aber die immer wieder kursierenden Projektionen (»Der SDS will sich den Bildungsstreik unter parteipolitischen Gesichtspunkten unter den Nagel reißen«, »Der Koordinierungskreis könnte sich verselbständigen«, »Die Pressegruppe könnte machtvoll eigene Politik betreiben«, »Einzelpersonen wollen sich selbst inszenieren und für den Bildungsstreik sprechen«) entbehrten der Realität und lähmten oft die anstehenden Arbeitsprozesse. Viele Engagierte waren entnervt und warfen das Handtuch. Alle Machtspekulationen haben sich als unhaltbar erwiesen – eine Instrumentalisierung jedweder Art fand nicht statt. Versuche dazu blieben schon in den Anfängen stecken. Persönliche Eitelkeiten wurden eingedampft, niemand konnte zur Sprecherin oder zum Sprecher der Bildungsstreikbewegung avancieren. Keine Chance für einen neuen Rudi Dutschke.

Daß die Kultur der falschen Projektionen zuweilen zur Lähmung von Entscheidungsprozessen führte, ist kein basisdemokratisches Ruhmesblatt. Es ist wichtig, ein waches Auge auf Fehlentwicklungen zu haben, offen zu kommunizieren, kritisch zu hinterfragen und sich ständig zu reflektieren, doch sollte das durch ein kooperatives Zusammenwirken möglichst konfliktbeherrschend und ohne zu große Eskalationen möglich sein. Der Koordinationskreis, man wagt es kaum auszusprechen, war während der Streikwoche komplett arbeitsunfähig. Was wäre passiert, wenn drei, vier Demos oder vier, fünf Bankenbesetzungen zusammengeprügelt worden wären? Wer hätte jenseits der lokalen Bündnisse überhaupt reagieren können? Kurz: Ein bundesweiter Bildungsstreik ohne Legitimation ist ein basisdemokratisches Unding. Zentralität und Dezentralität haben sich zu ergänzen – nicht zu blockieren.

Sechstens war der Bildungsstreik trotz einiger anderer Bemühungen auf Deutschland konzentriert und zunächst weitgehend ohne internationale oder europäische Bezüge zu Italien, Frankreich, Griechenland oder Spanien. Ein europäischer Bildungsstreik für das Jahr 2011 ist zwar in der Diskussion, aber Schritte zur Verwirklichung sind bisher nicht gegangen worden. Jedoch gerade die österreichischen Studierenden drängen auf europaweite Proteste. Die momentanen Entwicklungen im Alpenland und die damit einhergehende Vernetzung erwecken Hoffnung für eine Ausweitung der internationalen Bewegung.

Siebtens: In der Genderfrage ist positiv festzustellen, daß sich eine Männerdominanz zwar hier und dort etablierte, aber einzelne Exemplare dieser Spezies an klassischen Hegemo­nialstrategien wirksam gehindert wurden. Kein Mann hat eine dominante Funktion im Streik erreicht. Aber eine alte Erfahrung aus der Bewegungsforschung bestätigte sich auch: Frauen sind sensibler für die grundsätzlichen Probleme des Bildungsstreiks – die Männer halten aber das Heft ganz fest in der Hand, wenn es um Banküberfälle, zwölfstündige Pressearbeit oder Polizeieinsätze geht.

Anspruchsvollere Ziele

Entscheidende Schwächen der Bildungsstreikbewegung sind aktuell die dünne Personaldecke von Aktivistinnen und Aktivisten und die vorerst noch fehlenden Alternativen zur herrschenden Bildungspolitik. Vom Bildungsbegriff über andere Lehr-Lern-Prozesse bis zum aufrechten Gang durch wirklich entschlackte Studien- und Prüfungsordnungen sind phantasievolle und stimulierende Alternativen gefragt. Eine wirklich kritische Urteilsfähigkeit und eine Rückkopplung mit der Praxis läßt sich nur in einem fünfjährigen Studium mit wesentlich mehr Lehrpersonal erreichen. Der Druck von unten an den Instituten ist noch schwach oder droht an den bürokratischen, langwierigen, teils hinausgezögerten Verhandlungsprozessen mit den Universitätsleitungen zu scheitern. Die Studierenden sollten jetzt massenhaft Anträge zur Aussetzung der Prüfungsordnungen stellen und Alternativen aushandeln. Sonst ist die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß sich der Bildungsstreik rasch im rituellen Aktivismus erschöpfen könnte.

Fünf Konsequenzen sind aus dem Bisherigen zu ziehen: Das »Turboabitur« und der Sechs-Semester-Bachelor sind durch zivilen Ungehorsam abzuschaffen. Die Hochschulen sollten sich rasch auf eine Debatte eines mindestens fünfjährigen Studiums mit entsprechenden 15prozentigen Zeitressourcen für alle Studierende (Tutoren, wissenschaftliche Mitarbeiter, Hochschullehrer) einlassen. Eine neue Debatte über exemplarisches Lehren und Lernen ist überfällig. Ein »Notprogramm für Schulen und Hochschulen« ist mit den Kultus- und Finanzministern auszuhandeln, um die katastrophalsten Zustände zu mildern. Ein europäischer Bildungsstreik für 2010/2011 sollte in den Zusammenhängen von ATTAC, dem Europäischen Sozialforum, dem Europäischen Gewerkschaftsbund und den europäischen Schüler- und Studierendennetzwerken konzipiert werden. Der Bildungsstreik war und ist hoffnungsvoll – die Ziele können jetzt anspruchsvoller und konfliktverschärfender gesetzt werden. Mut zur Wut lohnt sich.

Peter Grottian ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft (FU Berlin) und Berater im Bildungsstreik. Michael Kolain studiert Rechtswissenschaft und Sebastian Zimmermann Mathematik an der Universität Heidelberg. Beide gehören zu den Koordinatoren des Bildungsstreiks
von: http://www.jungewelt.de/2009/11-17/017.php

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